Politik
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No. 1 An euch „Rebellen“ da draußen:

DIE REAKTIONEN AUS POLITIK, WISSENSCHAFT & MEDIEN

Sowohl die Öffentlichkeit, Personen des öffentlichen Interesses als auch die Politik zeigen diverse Reaktionen. Stuttgarter Bürger, Anwohner sowie Ladenbesitzer sind geschockt über die Ereignisse und das Ausmaß der Schäden. ARD-Korrespondentin Jenni Rieger beschreibt dies als ein “völlig neues Ausmaß an Gewalt und Zerstörung.” Stuttgarts Polizeivizepräsident Thomas Berger spricht von “Szenen, die es in Stuttgart noch nie gegeben habe” und auch Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz reagiert “fassungslos”.  Der katholische Stadtdekan Christian Hermes äußert sich empört zu Schaulustigen “Was für Affen!”, fordert eine strengere Sicherheits- sowie Ordnungspolitik und plädiert im Zusammenhang mit der Missachtung von Corona-Auflagen dafür “die Saufgelage und Müllorgien, die hier stattfinden”, zukünftig zu unterbinden. [3-001]

Die SPD-Fraktion im Stuttgarter Landtag fordert eine Sondersitzung des Innenausschusses, um eine solche “furchtbare Nacht” zukünftig auch mit präventiven Mitteln zu verhindern. Innenexperte der Landtagsfraktion Sascha Binder (SPD) spricht von “bürgerkriegsähnlichen Zuständen” und “Straßenschlachten in Baden-Württemberg”. Der Landtagsvorsitzende Andreas Stoch (SPD) ist der Ansicht: “jeder einzelne dieser Vollidioten muss mit der vollen Schärfe unseres Rechts bestraft werden”. Für Saskia Esken (SPD-Bundesvorsitzende) war es “sinnlose, blindwütige Randale”, deren Täter hart bestraft werden müssten. [3-002]

Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) ist schockiert über den Gewaltausbruch und sagt dazu auf Twitter “Das ist ein trauriger Sonntag für Stuttgart”. Gleichzeitig verdeutlicht er, dass es keine rechtsfreien Räume in Stuttgart geben wird und mit dem Angriff auf Einsatzkräfte eine Grenze überschritten sei, was die Besonderheit der Stadt Stuttgart zerstöre. Ursachen hierfür sind aus seiner Perspektive insbesondere Alkohol und das Geltungsbewusstsein in sozialen Medien. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann (Grüne) beschreibt die Krawallnacht als “brutaler Ausbruch von Gewalt” oder “Gewaltorgie” und bezeichnet die Taten als “kriminelle Akte, die konsequent verfolgt und verurteilt gehören”. [3-003]

Der Parteivorsitzende Hans-Ulrich Rülke (FDP) im Stuttgarter Landtag verurteilt die “Ausbrüche der kriminellen Gewalt” und betont, dass der Rechtsstaat sich wehrhaft zeigen müsse. [3-004]

Stuttgarter CDU-Mitglieder zeigen sich fassungslos und empört. Oberbürgermeisterkandidat Frank Nopper (CDU) spricht von “Gewaltexzess”, der in einer von Liberalität und gegenseitigem Respekt geprägten Stadt wie Stuttgart mit aller Entschlossenheit verhindert werden muss. Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) spricht von Ausschreitungen in bisher noch nie dagewesener Qualität und Regierungssprecher Steffen Seibert (CDU) nennt Szenen aus dieser Krawallnacht “abscheulich”. Politiker wie Fraktionssprecher Thomas Blenke (CDU) oder Generalsekretär Manuel Hagel (CDU) sehen politische Linke in der Mitverantwortung und beziehen sich dabei direkt auf SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken. Diese unterstelle der deutschen Polizei ein Rassismus-Problem und zerstöre dadurch den Respekt gegenüber Ordnungshütern. [3-005]

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sieht solche Attacken als “Alarmsignal für den Rechtsstaat” und vertritt die Meinung: “Strafen sind immer das beste Mittel an Prävention, um so was in Zukunft zu vermeiden”. [3-006]

Der Fraktionschef Bernd Gögel (AfD) in Baden-Württemberg plädiert für die Einrichtung einer Sonderkommission, um solche Vorkommnisse wie in einem “Bürgerkrieg” zukünftig zu verhindern und alle Beteiligten festzunehmen. In einer Mitteilung schreibt er: “Das stinkt ganz gewaltig nach einer unguten Melange aus Migranten und Linksextremen.” [3-007]

Sowohl Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz als auch Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz schließen eine (links-) politische und religiöse Motivation für die Gewalttaten aus. [3-008]

Stuttgarts Polizeivizepräsident Thomas Berger kommentiert die Nacht mit “Gewalt ist männlich und betrunken”. Er sieht die Ursachen, genauso wie Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz, im Alkoholkonsum und der Selbstinszenierung in sozialen Medien. Bislang besteht noch Unklarheit über den Gewalt-Ursprung. Die Polizei geht von der Party- und Eventszene aus. [3-009]

Der Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) geht zunächst von wenig politischer Motivation aus. Von den 500 Beteiligten haben wenige Personen Straftaten begangen. Strobl erklärt, dass viele die aggressive Menge angefeuert haben und verweist auf die Partyszene, “die auch Drogen nimmt, wo viel Alkohol im Spiel ist”. Einen Zusammenhang zu den Ereignissen in den Vereinigten Staaten (USA) hält Strobl für denkbar. [3-010]

Vereinzelt wird von Parallelen zu den Ereignissen in den USA hinsichtlich des gestorbenen George Floyd gesprochen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kündigt an Anzeige gegen die Autorin einer taz-Kolumne zu erstatten mit der Begründung: eine “Enthemmung der Worte führt unweigerlich zu einer Enthemmung der Taten und Gewaltexzessen.” In besagter Kolumne wird im Zusammenhang mit den Black-Lives-Matter-Protesten die Hypothese einer Zukunft ohne Polizei thematisiert mit dem Ergebnis, dass hohe Anteile autoritärer Persönlichkeiten die Integration in andere Berufsgruppen erschwere. In einer Stellungnahme bezeichnet ein taz-zugehöriger Anwalt die Kolumne als satirisch geformten Gedanken auf Grundlage einer These, was nicht verboten sei. [3-011]

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) nennt die Ereignisse “Gewalt, Vandalismus, schiere Brutalität”, fordert dies “mit aller Härte des Rechtsstaats” zu verfolgen sowie zu bestrafen und stellt sich hinter die Polizei. Erforderlich sei sich dem entgegenzustellen, der Polizeikräfte angreift, “wer sie verächtlich macht oder den Eindruck erweckt sie gehörten ‘entsorgt’”. Ehemaliger Parteichef Cem Özdemir (Grüne) ist besorgt über den Ruf Stuttgarts und kritisiert das “bizarre Bild”, welches laut ihm “manche Jugendliche, insbesondere mit Migrationshintergrund, von der Polizei in Deutschland hätten, wonach in jedem Polizist ein Rassist gesehen werde”. Er verweist darauf, dass dies in Deutschland anders sei als in den USA. Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) sieht einen Aufruf zu schlimmen Straftaten gegen Polizeikräfte, “wenn man sage, diese werfe man auf den Müll”. Am 22.06.2020 liegt von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) noch keine endgültige Entscheidung zur Anzeige vor. Er spricht von einer “schwierigen Schnittstelle zwischen Pressefreiheit und Strafrecht”. [3-012]

Bundesvorsitzende Saskia Esken (SPD) stellt sich nach Ereignissen hinter die Polizei, jedoch nicht hinter Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese (SPD) zeigt sich irritiert und verweist auf die Pressefreiheit in Deutschland als “hohes und schützenswertes Gut”. Der “Ausdruck von Hass und entfesselter Gewalt” in Stuttgart ist für Bundesvorsitzende Annalena Baerbock (Grüne) durch nichts zu entschuldigen. Baerbock wirft Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hinsichtlich der taz-Kolumne Selbstinszenierung vor und weist darauf hin, dass in Zeiten zunehmender Polarisierung ein Innen- und Verfassungsschutzminister erforderlich sei, “der über eine starke Demokratie”, “Debatten über Antirassismus” und eine starke Polizei mit Fehlerkultur sowie Respekt in der Gesellschaft spricht. Innenexpertin Irene Mihalic (Grüne) hält einen direkten Zusammenhang zwischen der taz-Kolumne, welche laut Mihalic “zutiefst menschenverachtend” sei, und den Ereignissen in Stuttgart nicht für zulässig. Sie empfindet Strafanzeigen durch Regierungsmitglieder gegen die freie Presse befremdlich. [3-013]

Der Geschäftsführer des Deutschen Presserats Roman Portack ist besorgt über die angekündigte Anzeige und sieht eine Verbindung zwischen Strafrecht und Einschüchterung. Eine Folge könne laut Portack sein, dass Journalisten zukünftig vor einer Veröffentlichung zögern und eine gedankliche Schere entsteht. Fernsehsatiriker Jan Böhmermann bezeichnet das Vorgehen von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) als “gefährliche Effekthascherei” und hinterfragt das Ausmaß seiner Autorität. [3-014]

Später gibt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bekannt, keine Anzeige gegen die taz-Kolumnistin zu erstatten. [3-015]

Sowohl die Polizei, die Stadt Stuttgart als auch die Landesregierung warnen vor “Schubladen-Denken”, da sich in den sozialen Medien kurz nach den Ereignissen verbreite, dass überwiegend Migranten oder Geflüchtete beteiligt seien, obwohl die Mehrzahl der Tatverdächtigen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Fraktionssprecher Uli Sckerl (Grüne) im Stuttgarter Landtag bezeichnet die Lage als “bisher viel zu unübersichtlich”, und bittet darum keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, einen “kühlen Kopf” zu bewahren und die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen. Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) fordert Rückhalt für die Polizei und plädiert dafür den Generalverdacht des Rassismus zurückzunehmen, den beispielsweise konkret die Berliner Antidiskriminierungsgesetze unterstellen könnten. [3-016]

Die Ermittlungen zu den Ereignissen der Stuttgarter Krawallnacht führen zu kontroversen Diskussionen. Die Polizei forscht mithilfe der Standesämter nach, ob bei deutschen Tatverdächtigen ein Migrationshintergrund vorliegt. “Stammbaumforschung”-Vorwürfe  werden zurückgewiesen, da die Nationalität der Eltern, aber nicht die der Großeltern ermittelt wird. Als Begründung für das Vorgehen werden die Schwere der Taten, die Fluchtgefahr ins Ausland und die Erarbeitung von Präventionskonzepten, die für “Migranten aus sozialen Brennpunkten” anders sein müssten als für “Deutsche aus wohlhabenderen Gegenden” genannt. Am 21.06.2020 nannte Stuttgarts Polizeivizepräsident diverse Herkunftsländer der Tatverdächtigen und stellte dabei klar, dass es “nicht allein ein Flüchtlingsthema”, aber Migrationshintergrund bei den Deutschen ein Teil der Wahrheit sei. Fraktionssprecher Uli Sckerl (Grüne) im Stuttgarter Landtag sieht einen Zusammenhang zwischen den Ausschreitungen und Integrationsproblemen in einer heterogenen Stadtgesellschaft. Laut Sckerl “spielt sicherlich auch Migration eine Rolle”, da es “keine einfache schöne Multikulti-Welt” gäbe. Dies seien offensichtlich Konflikte, “die vielleicht nicht von allen gesehen oder die bisher ignoriert worden” und gelte für mehrere Generationen, was eine kritische sowie tabulose Aufarbeitung erfordere. Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) betont, dass Herkunft bei der Strafverfolgung nicht mildernd berücksichtigt wird. Laut Strobl hat “Multikulti seine klaren Grenzen in den geltenden Gesetzen, insbesondere in den Strafgesetzen.” Dafür gäbe es in Stuttgart und Baden-Württemberg “keinerlei Rabatt”. Eine Mitverantwortlichkeit für Ereignisse sowie die Diskreditierung der Polizei sieht Strobl in der gesellschaftlichen Stimmung und Äußerungen der Politik. Der parlamentarische Geschäftsführer Stefan Müller (CSU) fordert die “Täter klar beim Namen zu nennen”. Die Bezeichnung “Party- und Eventszene” sei für Müller falsch, stattdessen gäbe es in Deutschland “ein Problem mit Migranten, die keinerlei Respekt vor der Polizei haben”. [3-017]

Aufgrund der Kritik am polizeilichen Ermittlungsvorgehen will ein Landesdatenschutzbeauftragter den Vorgang prüfen. Einige Stuttgarter Stadträte sehen in diesem Vorgehen eher einen Angriff auf Menschen mit Migrationshintergrund als einen Beitrag zur Klärung der Straftaten. Stadtrat Christoph Ozasek (Linke) sieht Recherchen kritisch und in Äußerungen des Stuttgarter Polizeipräsidenten Franz Lutz ein “Weltbild, das mit den in Stuttgart gelebten Werten in offenem Konflikt steht”. Laut Ozasek besteht ein Risiko des Racial Profiling sowie Schwächung der Integrität bei der Polizei, falls Hautfarbe und Herkunft zu generellen Verdachtsmerkmalen werden. Stuttgarter Gemeinderätin und Fraktionsvorsitzende Gabriele Nuber-Schöllhammer (Grüne) zeigt sich irritiert über die “Herkunftsaufschlüsselung der Tatverdächtigen” und befürchtet eine Einschränkung der Debatte über Ursachen der Krawallnacht, wenn der Migrationshintergrund in den Fokus gestellt werde. Stadtrat Marcel Roth (Grüne) nennt die Ermittlungen hinsichtlich der Migrationshintergründe “höchstproblematisch”. Der Leiter des Fachbereichs für Gewaltprävention bei der Sozialberatung Stuttgart Markus Deck ist der Meinung, dass Migrationshintergrund sowie Nationalität beim Einfluss auf Taten keine Rolle spiele. [3-018]

Ein 18-jähriger, gebürtiger Deutscher mit Migrationshintergrund, der zum Zeitpunkt der Ereignisse alkoholisiert war, aussagt keinen Hass auf die Polizei zu haben und von der Dynamik mitgerissen worden zu sein, wird aufgrund schweren Landfriedensbruchs sowie versuchter Körperverletzung nach Jugendstrafrecht zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Beobachter zeigen sich überrascht, da das Urteil über das Plädoyer der Staatsanwältin – zwei Jahre auf Bewährung – hinaus ginge. Als Grund nennt der Richter, dass der Angeklagte “durch sein Handeln auch andere animiert” und ein Geständnis abgelegt habe, “als die Beweise sowieso erdrückend waren”. Ein 19-Jähriger, der zur Tatzeit wegen einer früheren Verurteilung auf Bewährung ist und belastende Fotos veröffentlicht, wird nach dem Urteil ins Gefängnis zurückgebracht. [3-019]

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betont im Zusammenhang mit den Ermittlungen die “Aspekte der Prävention” und nennt die Untersuchung des soziologischen Umfelds ein “polizeiliches Standardvorgehen”, zu dem “selbstverständlich” auch Informationen über Eltern gesammelt werde, da die Aufenthaltsdauer in der “Gesamtabwägung” einen Unterschied mache. Die Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) reagiert insofern, dass keine ihr bekannten wissenschaftlichen Studien einen Zusammenhang zwischen Nationalität der Eltern zu Taten nahelegen würden. Die Herkunft der Eltern sei im Jugendstrafrecht kein maßgeblicher Faktor und dürfe keine strafverschärfenden Wirkungen haben. Im Vordergrund stehe die persönliche Schuld der Jugendlichen. Familienverhältnisse wie die Herkunft der Eltern seien für Gerichte als Ergebnis gründlicher Ermittlungen relevant. Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, bezeichnet das Vorgehen als “alles andere als Routine”. Laut Singelnstein werde eine Straftat ohne Ansehen der Person betrachtet. Im Jugendstrafrecht, welches eine erzieherische Wirkung haben soll, werden Lebensumstände berücksichtigt, die wesentlich für das Tatgeschehen sind. Die Migrationsgeschichte sei dafür nicht wesentlich. Dies könne zur Wahrnehmung einer Verknüpfung zwischen Straffälligkeit und Migration führen und sei “extrem problematisch”. [3-020]

In einem Artikel der Zeit wird das polizeiliche Vorgehen der “Ahnenforschung” bei Tatverdächtigen als “struktureller und institutioneller Rassismus im engeren Sinn” bezeichnet, genauer ein staatliches Verfahren beruhend auf ungleicher Wahrnehmung mit dem Ziel der Ungleichbehandlung. Dies gelte unabhängig von verantwortungsbewussten Motiven zur Gewaltprävention, worauf sich das Polizeipräsidium Stuttgart berufe, und korrespondiere mit anderen gesellschaftlichen Strukturen wie Kommentarspalten. Die Welt beschreibt in einem Artikel ein hohes Maß an “Nichtwissen über die interkulturelle Gesellschaft” und Rassismus in Sicherheitsbehörden als ernstes Problem, da in Deutschland regelmäßig “Racial Profiling” auftrete. Dies zu thematisieren sei “Aufgabe der Innenminister von Bund und Ländern”. [3-021]

Im Jahr 2018, in dem laut Statistischem Bundesamt jede vierte Person einen Migrationshintergrund – selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren worden ist – besitzt, nennt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Migration “die Mutter aller Probleme”. Innenexpertin Irene Mihalic (Grüne) fordert einen unabhängigen Polizeibeauftragten als wichtiges Hilfsorgan für das Parlament, um die Bundespolizei oder das Bundeskriminalamt “in angemessener Weise kontrollieren” zu können, da der Innenausschuss aktuell Vorfälle, wie die NS-2.0-Vorfälle in Hessen, “häufig nur aus der Presse” erfahre. Daten dazu, ob dies Einzelfälle oder strukturelle Probleme seien, liegen laut Mihalic auf Bundesebene nicht vor. Am 24.06.2020 bestätigt die Polizei Stuttgart die Ermittlung gegen einen Beamten, der sich fremdenfeindlich gegenüber Randalierenden geäußert haben soll. Eine von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) vorgeschlagene und von Innen- sowie Justizministerium angekündigte Studie zu Racial Profiling wird von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) abgelehnt. Als Begründung nennt Seehofer, dass kein strukturelles Problem bezüglich Rassismus bestünde und Racial Profiling “bereits verboten” sei. Mit dem Hinweis “nicht jede Woche ein Wünsch-Dir-was spielen” zu können, sehe Seehofer keine Notwendigkeit für die Durchführung dieser Studie. Vizevorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Jörg Radek befürwortet Seehofers Aussage und lehnt eine Studie zur Rassismus-Untersuchung bei der Polizei ab. Radek hält eine Studie zu der Bestimmtheit der Vorschriften, nach denen die Beamten kontrollieren, und wissenschaftliche Erkenntnisse zu Auswirkungen jahrelanger Polizeieinsätze zur Vermeidung rassistischer Denkmuster bei einzelnen Beamten für sinnvoll. Das Ablehnen der Studie durch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) führt zu parteiübergreifender Kritik von der Linkspartei, Grünen und SPD. Die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU) stellt sich dem Nein zu der Untersuchung entgegen. Laut Widmann-Mauz sei ein wichtiges Argument, dass Polizeiverbände wie der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) diese Studie befürwortet haben. BDK-Vorsitzender Sebastian Fiedler sieht ein Risiko, dass durch die Haltung Seehofers der Eindruck entstehen könnte, die Polizei hätte “etwas zu verstecken”. Fiedler betont, dass dies nicht der Fall sei, sondern die Studie dazu dienen soll, Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen und potenzielle Probleme offenzulegen sowie durch die Polizeibehörde “offensiv anzugehen”. Aufgrund bekannter Fälle sieht Fiedler den Wert in der Forschung und verstehe die “Angst vor Wissenschaftlern” nicht, da diese unabhängig die Anzahl der Fälle ermitteln und “Substanz an die Diskussion” bringen könnten. Für Polizeiwissenschaftler Ralf Behr wäre die Untersuchung ein Zeichen gewesen für die Bemühung der Polizei ein diesbezügliches Bewusstsein zu schaffen. Ohne Daten könnte nicht belegt werden, dass “es Einzelfälle sind”. Laut Behr “habe Seehofer auf höchster Ebene verhindert, dass überhaupt Forschung geschieht”. [3-022]

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) befürwortet eine Studie zu Gewalt gegen Polizeikräfte, um festzustellen, was in Deutschland seit längerem dazu führe, dass “die Polizei – bis in wichtige Bereiche der Politik und der Medien hinein – so beschimpft und verunglimpft wird”. [3-023]

An den Wochenenden vor der Krawallnacht soll es zu Auseinandersetzungen zwischen “überwiegend jungen Menschen mit der Polizei” gekommen sein. Die Frage nach “Drahtziehern” oder Einordnung in “polizeibekannte Szenen” bleibt zunächst unbeantwortet. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Baden-Württemberg reagiert schockiert und “mit völligem Unverständnis” auf die Ausschreitungen in Stuttgart. Angriffe auf Kolleginnen, Kollegen sowie Plünderungen von Ladengeschäften seien “nicht hinnehmbar” und als “Angriff auf den Rechtsstaat zu verstehen. Gewerkschaftsvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg Ralf Kusterer sieht in “Verunglimpfungen und Verunsicherung der Polizei” durch Anteile der Politik einen Beitrag zu “so einer Enthemmung”. Präsident der Bundespolizei Dieter Romann warnt vor Verharmlosung der Ausschreitungen, da diese “weder Happening noch Event, sondern schwerste Straftaten” gewesen seien. Romann sieht die gewaltbereite Haltung als nicht repräsentativ für Deutschland. Stellvertretender GdP-Vorsitzender Jörg Radeck beklagt sich über eine wachsende Respektlosigkeit gegenüber der Polizei, “insbesondere in der Corona-Krise”. Je länger die Pandemie und erlassene Auflagen gelten, desto weniger Verständnis oder Akzeptanz gäbe es für polizeiliche Maßnahmen. Der BBW-Beamtenbund möchte zunehmende Gewalt gegenüber öffentlichen Beschäftigen durch Verbesserungen in der Strafverfolgung unterbinden. Der Bezirksvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) sieht in der Schaffung von Perspektiven und Bildungschancen für die Jugend ein Mittel zur Prävention solcher Ausschreitungen. Innenexpertin Irene Mihalic (Grüne) äußert, dass die Daten zur potenziellen Zunahme von Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei fehlen. Die statistische Erfassung von Gewalt gegen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sei erst seit Kurzem aktiv. Klagen über abnehmenden Respekt gegenüber der Polizei gäbe es laut Mihalic bereits seit über 20 Jahren. Die Kriminalstatistik zeigt, dass die Gewaltkriminalität insgesamt rückläufig sei. Mihalic hält Auseinandersetzungen zwischen “Polizei und Randalierern” in konfrontative Situationen grundsätzlich für möglich und hat keine “schlüssige Erklärung dafür, woher dieser Hass” in Stuttgart kommt. Gewalt sei beispielsweise bei Demonstrationen oder Fußballspielen nicht vollständig verhinderbar. Auf unvermittelte Angriffe wie in der Stuttgarter Krawallnacht sei die Vorbereitung schwieriger. [3-024]

Stadt, Land sowie Polizei suchen nach Antworten wie die Gewalt “mitten in der Nacht so plötzlich” ausgebrochen sei und verweisen sowohl auf eine “enthemmte Partyszene”, die Folgen der Corona-Auflagen, dem fehlenden Respekt gegenüber Ordnungshütern als auch den Wunsch der Selbstinszenierung in sozialen Medien. Leiter des Rettungsdienstes beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) Ralph Schuster sieht eine jahrelange, gesellschaftliche Entwicklung des schwindenden Respekts gegenüber Polizisten, Lehrenden, Feuerwehr, Ärzten, Pflegepersonal und Rettungskräften. Laut Schuster sei “das Selfie mit dem Unfallopfer oft wichtiger” und “viel Gleichgültigkeit im Spiel”. In 2018 beleidigte ein 23-Jähriger die Rettungskräfte und beschädigte ihr Einsatzfahrzeug, während sich diese um einen bewusstlosen Jungen im Kindergarten kümmern, da sein eigenes Auto blockiert sei, dass er benötige, um zu Arbeit zu fahren. Katholischer Stadtdekan Christian Hermes beklagt sich über Lärm an Wochenenden und weist darauf hin, dass es seit Jahren zu “Pöbeleien, Respektlosigkeiten gegenüber der Polizei und Vermüllung” käme. Laut einer Polizeisprecherin habe sich die Stuttgarter Innenstadt über Jahre “zu einem Partygebiet gewandelt”, wo sich zunehmend Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene “zum Vor- und Nachglühen” treffen. Dies sei in der Corona-Zeit verstärkt aufgetreten, da Bars und Clubs geschlossen wurden. Laut Polizeivizepräsident von Stuttgart Thomas Berger wollen sich Täter “in sozialen Medien in Pose setzen”. Zusätzlich hätten Corona-Einschränkungen zu häufigeren Treffen junger Menschen im öffentlichen Raum geführt, die “auf normale polizeiliche Ansprache” sehr aggressiv reagieren. Kriminologe Christian Pfeiffer sieht Ursachen in Coronavirus-Beschränkungen, da die Menschen “mehrere Wochen wie eingesperrt” waren im Vergleich zur Normalität. Laut Pfeiffer seien “viel aufgestauter Ärger” und “viele Verlierer durch Corona” vorhanden. [3-025]

Der Stuttgarter Gemeinderat warnt vor pauschaler Verurteilung ganzer Gruppen oder der Partyszene, betrachtet Täter als “hemmungslose Gewalt- und Straftäter” und empfiehlt “verstärkt geeignete Maßnahmen” gegen zukünftige Ausschreitungen zu definieren. Gewerkschaftsvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg Ralf Kusterer wirft der Stadt Stuttgart vor: “eigentlich müsste im Stuttgarter Rathaus niemand über die Auseinandersetzungen in der Nacht zu Sonntag überrascht gewesen sein”. Laut Kusterer hätten sich die Ausschreitungen länger angedeutet, da vermehrt Probleme jugendlichen und heranwachsenden Tätern aufgetreten und die Stadtverwaltung darüber informiert gewesen sei. Kusterer spricht von einer “Problemszene”, die sich versammle “um nahezu ungehindert Drogen und Alkohol zu konsumieren”, äußerst aggressiv sowie respektlos gegenüber Polizeikräften sei und mit dem Stuttgarter Event-Publikum “überhaupt nichts zu tun” habe. Die Stadt Stuttgart weist diese Vorwürfe zurück mit der Begründung, dass ein “Gewaltausbruch in dieser Dimension von niemandem vorhergesehen worden” sei und die Polizei im Februar den oberen Schlossgarten, das Areal rund um den Eckensee, “nicht als Kriminalitätsbrennpunkt eingestuft” habe. [3-026]

Die Stadt sowie die Polizei möchten Stuttgart sicherer machen und laut Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) “Fragen ohne Tabus diskutieren”. Hierzu prüft ein Leitungsgremium Videoüberwachung, Alkoholverbote und Aufenthaltsverbote für öffentliche Plätze. Gleichzeitig wird in Zusammenarbeit mit Einzelhändlern sowie Clubszene Jugend- und Migrantenarbeit an einem runden Tisch diskutiert. Gewerkschaftsvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg Ralf Kusterer fordert, dass über eine Sperrstunde zwischen 3 und 7 Uhr diskutiert wird.

Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) plädiert für eine Erweiterung des Straftatbestands von Landfriedensbruch, sodass auch “Gaffer und gröhlende Zuschauer” haftbar gemacht werden können. [3-027]

Als Konsequenz von Krawallen auf dem Frankfurter Opernplatz in der Nacht des 19. JULI werden Parallelen zu den Ereignissen in Stuttgart gezogen, Sperrstunden sowie Betretungsverbote für den Opernplatz verhängt und die elterliche Herkunft der Tatverdächtigen durch die Polizei ermittelt. Frankfurter Landtagsabgeordneter Turgut Yüksel (SPD) hält diesen Ansatz für verfehlt und nicht für zielführend die “Debatte zu ethnisieren” oder daraus Motivationen für Kriminalität abzuleiten. Dirk Baier, Leiter des Institut für Delinquenz und Kriminalitätsprävention an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, sieht in dieser Überprüfung “keinen Sinn” und die Ursachen stattdessen Perspektivlosigkeit oder aktuellen Problemen junger Menschen. Eine Sperrstunde stellt für Baier keine grundsätzliche Lösung, sondern eine Verlagerung auf andere Stadtviertel dar. [3-028]

Bundesparteivorsitzender Bernd Riexinger (Linke) warnt vor Instrumentalisierung der Ereignisse für “fremdenfeindliche oder rassistische Hetze”. Riexinger hält eine Demonstration “voller Härte” durch die CDU für wenig zielführend und plädiert dafür “neben Alkohol und Drogen die wahre Ursache für diese Aggression zu suchen”. Als Beispiele nennt Riexinger Fragen “wie die nach Angst vor einer unsicheren sozialen Zukunft oder nach Ausgrenzung und falscher Behandlung”. Der innenpolitische Fraktionssprecher von Baden-Württemberg Ulrich Goll (FDP) warnt vor überstürzten Entscheidungen und davor, dass die “Ausweitung der Videoüberwachung und Verbotszonen für Alkoholkonsum” “vorschnell begrüßt” werden könnten, da diese “nur zur Verlagerung von Problemen” führe. Laut Goll sei die Sicherheit im öffentlichen Raum von der Polizeipräsenz und Konsequenz, wie bei “der Verfolgung kleinerer Delikte und der Abschiebung auffälliger Ausländer” abhängig. [3-029]

Die City-Initiative Stuttgart – ein Verbund aus Händlern, Gastronomen, Hoteliers und Kulturbetrieben – verlangen, dass Polizei sowie die Stadt das Sicherheitskonzept optimieren, um erneute gewalttätige Übergriffe, mutwillige Beschädigung oder Plünderungen zu verhindern. City-Manager Sven Hahn zeigt sich “schockiert über nächtliche Randale und Zerstörungswut” in Stuttgarts “ohnehin schon schwierigsten und härtesten Zeiten seit Jahrzehnten”, aber warnt davor “vorschnell den Finger auf jemanden zu richten”. Aufgrund von Corona-Maßnahmen seien viele Betriebe “am Rande des Ruins, jetzt stünden Existenzen auf dem Spiel”. Dies erfordere eine zeitnahe Perspektive für die lokale Wirtschaft. Ein Vorschlag ist, dass Geschäftsinhaber ihre Sicherheitsvorkehrungen mit offiziellen Stellen abstimmen. Vertreter des Stuttgarter Clubkollektivs – einem Zusammenschluss mehrerer Veranstalter der Club- und Partyszene – Colyn Heinze weist die polizeiliche Verantwortlichkeitszuordnung für Ausschreitungen zur “Party- und Eventszene” als Pauschalverurteilung zurück, mit dem Hinweis auf beschädigte Clubs und Bars. Fethi Solomon, Veranstalter sowie DJ aus Stuttgart, beschreibt beteiligte Personen als “jene, die für gewöhnlich nicht in die Clubs hineinkommen”. Solomon zeigt sich unverständlich, aber nicht überrascht hinsichtlich der Entladung von Gewalt sowie Frustration, da es seit einiger Zeit einen “Hype zum Polizeihass” gebe. [3-030]

Psychologe Ahmad Mansour vermutet teilweise linksradikale oder religiöse Motive hinter den Ausschreitungen. Gewalt gegen Polizeikräfte werden laut Mansour durch verschiedene Gruppen und weltweite Diskussionen “relativiert” und im öffentlichen Raum seien mehr Menschen vorhanden, die sich Ausschreitungen potenziell anschließen können. Gewaltforscher Andreas Zick sieht das Zusammenkommen junger gewaltbereiter Menschen an neuen Versammlungsorten aufgrund der Corona-Pandemie und ein gemeinsames Feindbild gegen die Polizei von Jugendlichen, die sich mit dem Kontrollierten identifizierten, als Ursache für die Ausschreitungen. Eine Betrachtung des Migrationshintergrundes als wesentlichen Faktor hält Zick für “irreführend”. [3-031]

Politologe und Jugendforscher Bernd Holthusen nennt verschiedene relevante Faktoren für Eskalationen, darunter Alkoholkonsum als “klassischer Trigger”. Holthusen glaub nicht, dass die Hemmschwelle für Gewalt gegen Polizeikräfte gesunken sei und hält Debatten über höhere Strafmaße für “unsinnig”, da in eskalativen Situationen keine Abwägung möglicher Folgen stattfindet. Er verweist darauf, dass Jugendliche in der “Corona-Debatte weitestgehend vergessen worden” und neben der Schulsituation Einschnitte in den Alltag oder Lebenslagen unbeachtet geblieben seien. Die Perspektive benachteiligter Jugendlicher sei “bisher kaum beleuchtet” worden, die aufgrund eines Mangels an Alternativen nach “unterschiedlichsten Bewältigungs- und Verarbeitungsformen” suchen müssten. Holthusen plädiert dafür, dass die Vorsicht, welche eine Pandemie erfordert, nicht dazu führen darf, dass der Alltag und die Bedürfnisse junger Menschen vergessen werden oder diese in der Coronakrise ihr Jugendlichsein nicht ausleben können. [3-032]

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