Politik
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No. 1 An euch „Rebellen“ da draußen:

DIE EIGENE MEINUNG

Vorab sei gesagt: Uns ist bewusst wie emotional üblicherweise auf dieses Thema und die allgemeine Lage aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie reagiert wird. Auch unsere initiale Reaktion auf diese Ereignisse wäre nichts, was allgemein als sachlicher Diskurs oder die berühmte “feine englische Art” bezeichnet wird.

Daher bezeichnen wir uns zunächst lieber als sprachlos, um die Fassung zu wahren. Aber wir möchten auch ehrlich bleiben und versuchen uns daher auf dem schmalen Grat zwischen zielführender Diskussion und angemessener Bewertung hinsichtlich der Ereignisse zu bewegen.

Eventuell fragen sich aufmerksame Leserinnen oder aufmerksame Leser: Warum verfassen wir einen Artikel dieser Länge über ein Thema, welche heute genau acht Monate her ist? Zum einen befinden wir uns weiterhin in einer sehr angespannten und herausfordernden Lage innerhalb der SARS-CoV-2-Pandemie. Zum anderen sind enthaltene Themen so vielschichtig, dass wir auch nach dieser Zeit einen Mehrwert sehen darüber zu schreiben. Zunächst zu unserer Reaktion: Wir sind absolut geschockt über das Ausmaß dieser Eskalation. Uns fehlt dementsprechend auch das Verständnis für die Angriffe auf Passanten, Einsatzkräfte sowie die angerichteten Sachschäden an Geschäften und dem Stadtbild. Dies ist aus unserer Perspektive nicht zu rechtfertigen. Selbst eine nachvollziehbare Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation hätte aus unserer Perspektive nie zu diesen gesellschaftlichen Unruhen führen dürfen, da die SARS-CoV-2-Pandemie uns alle betrifft. Wofür wir ebenfalls keine Erklärung finden? Einseitiger Fokus, voreilige, nicht belegte Schlussfolgerungen, fragwürdige Zusammenhänge und problemorientierte Denkweisen.

In unserer Wahrnehmung lag der Fokus nach der Krawallnacht auf der erhöhten Polizeipräsenz, Diskussionen über Verbote sowie Überwachungsmaßnahmen, der Strafverfolgung sowie Ermittlung weiterer Tatverdächtiger und der Suche nach Verantwortlichen. Alles zur Steigerung von Sicherheit und im Sinne der Prävention – eine tendenziell problemorientierte Denkweise. Ergriffene Maßnahme scheinen für uns mehr die Symptome als die Ursache der Probleme zu beheben. Wenige Vertreter von Politik und Wissenschaft haben zielorientiert nach zugrundeliegenden Ursachen und möglichen Lösungen zu teilweise länger bekannten Konflikten gefragt. Und auch wir vertreten die Ansicht, dass es besser wäre mit einer lösungsorientierten Denkweise Konflikte nachhaltig zu lösen und Eskalationen dadurch langfristig zu vermeiden als mit einer problemorientierten Denkweise Maßnahmen oder neue Verbote zu definieren, um Ausschreitungen kurzfristig zu verhindern.

Ebenso widersprüchlich erscheint uns die Warnung vor voreiligen Schlüssen oder dem berühmten “Schubladen-Denken”, wenn bereits am Anfang die “Party- und Eventszene” als Ursprung festgelegt wird. Oder die Suche nach politischen Motivationen, wenn diese bereits durch die Polizei selbst ausgeschlossen wurden. Insgesamt schien die Berichterstattung durchzogen zu sein von unterschiedlichsten Meinungen diverser Personen des öffentlichen Interesses. Die verschiedenen inhaltlichen Konflikte ließen jedoch kein einheitliches Bild der Ereignisse und möglicher Ursachen zu. Hervorzuheben sind aus unserer Sicht die Vorwürfe des Landesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Ralf Kusterer an die Stadt Stuttgart, dass die Ausschreitungen aufgrund wöchentlicher Trends nahezu absehbar gewesen seien. Insbesondere die Begründung der Stadt, dass der obere Schlossgarten Ende FEBRUAR “nicht als Kriminalitätsbrennpunkt eingestuft” war, verliert aus unserer Perspektive an Gültigkeit, da im JUNI aufgrund der häufig als Ursachen genannten SARS-CoV-2-Maßnahmen eine völlig andere Situation vorlag.

Ein weiterer, aus unserer Sicht fragwürdiger Zusammenhang, waren die Ermittlungen zum Migrationshintergrund der Tatverdächtigen. Erneut gerechtfertigt durch den Gedanken der Prävention, zur Entwicklung geeigneter Integrationskonzepte und sogar als “polizeiliches Standardvorgehen” bezeichnet, trifft dieses Vorgehen aus sämtlichen Bereichen, darunter das Justizministerium und ein Professor der Kriminologie, auf eindeutigen Widerspruch. Hinzu kommt die Tatsache, dass manche öffentliche Aussagen von Politik sowie Polizei in diesem Zusammenhang in einem bedenklichen Ausmaß nicht mehr diskriminierungsfrei betrachtet werden können. Vor diesem Hintergrund ist für uns nahezu unvorstellbar, dass ein Bundesinnenminister aufgrund seiner subjektiven Wahrnehmung, dass Themen wie Racial Profiling oder struktureller Rassismus bereits verboten und dadurch kein Problem seien, eine von europäischer Seite vorgeschlagene Studie untersagen kann. Zumal anderen Polizeibehörden diese Studie selbst befürwortet haben.

Wiederholt wird von dem Wunsch nach Selbstinszenierung junger Menschen in sozialen Medien als Grund für Ausschreitungen oder Respektlosigkeit gesprochen und dieser dementsprechend verurteilt. Wie sollen die Selbstinszenierungen der Politik in regulären Medien, welche sich deren Vertreterinnen und Vertreter teilweise gegenseitig vorwerfen, dann gesehen werden? Genauso die indirekte Unterstützung, welche diese regulären Medien teilweise bieten, indem vermehrt über Begriffsschöpfungen wie “Gewaltorgie”, “Gewaltexzesse” oder Tautologien der “blindwütigen Randale” sowie des “brutalen Ausbruchs von Gewalt” berichtet und auf objektivere Erklärungsansätze lediglich vermindert eingegangen wird. Verwirrt haben uns weiterhin Aussagen wie von Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU): “Multikulti seine klaren Grenzen in den geltenden Gesetzen, insbesondere in den Strafgesetzen.” Dafür gäbe es in Stuttgart und Baden-Württemberg “keinerlei Rabatt”. –  hat tatsächlich jemand “Rabatt” hierfür gefordert? Wir stimmen der Aussage von Herrn Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, zu. Danach ist eine Straftat ohne Ansehen der Person zu betrachten.

Abschließend möchten wir sagen, dass uns Ereignisse wie diese Nacht zunehmend zeigen, dass die schnellstmögliche Lösung von gesellschaftlichen Problemen notwendig ist, um solche Ausschreitungen zukünftig vorab verhindern zu können. Selbstverständlich ist dies nie vollständig und angesichts der aktuellen Lage innerhalb der SARS-CoV-2-Pandemie nur bedingt möglich. Wir fragen uns jedoch, ob die Eskalation zurückzuführen ist auf Probleme, die von der Pandemie-Situation zwar verstärkt, jedoch nicht verursacht worden sind. Anders gesagt: Hätten Konfliktthemen bereits früher behandelt werden müssen, um während der harten Zeit einer Pandemie nicht zu solchen Ausschreitungen führen zu können?

Unsere Bitte an Politik, Wissenschaft und Medien: Die Ausschreitungen dieser Krawallnacht haben uns alle geschockt und eine angemessen Verurteilung begangener Straftaten sollte nicht zur Debatte stehen. Sicherheit ist wichtig für die Menschen – gesellschaftlich, soziologisch und wirtschaftlich. Die Erhaltung dieser Sicherheit erfordert zielorientierte, faire Maßnahmen und Lösungen. Hierfür müssen über wichtige Themen, wie Bernd Holthusen über die Situation der Jugendlichen oder Sven Hahn über die Situation der lokalen Wirtschaft, gesprochen und Fragen, wie nach der physischen, emotionalen sowie mentalen Gesundheit der Menschen im Lockdown, beantwortet werden. Dies erfordert eine Plattform, mit der alle Menschen erreicht werden, sodass sich niemand vergessen oder ausgegrenzt fühlt. Die Politik sollte diese zielorientierten, fairen Maßnahmen oder Lösungen liefern, die Wissenschaft frei über Fragen und Themen diskutieren können und die Medien eine offene Plattform zum sachlichen Diskurs auf Augenhöhe bereitstellen. Wir möchten hoffnungsvoll bleiben, dass wir mit Zusammenarbeit, Transparenz, konstruktiver Kritik, evidenzbasierten Diskussionen und ohne Interessenkonflikte bald einen Weg aus der SARS-CoV-2 Pandemie finden können.  Unser Schlusswort: An Euch “Rebellen” da draußen – wie schwer wollt ihr es den Menschen machen, verständnisvoll zu sein? Ihr wollt Verständnis für die Ungerechtigkeit, eure Kritik an der aktuellen Situation und gegebenenfalls der Unverhältnismäßigkeit der Pandemie-Maßnahmen? Selbst wenn dies berechtigt sein könnte, so schadet ihr doch Menschen, die nichts davon verursacht haben. Körperlich und wirtschaftlich. Einzelhändlern, die aktuell auf Fördergelder angewiesen sind, zerstört ihr die Schaufenster und einen Anteil ihrer bereits gefährdeten Existenz. Kennt ihr selbsterfüllende Prophezeiungen? Unzufriedenheit führt zu Eskalationen. Eskalationen führen zu und legitimieren schärfere Maßnahmen. Schärfere Maßnahmen geben euch und Personen, die sich bisher an die Auflagen gehalten haben, weitere Gründe unzufriedener zu werden. So geht es ewig weiter und am Ende ist niemandem geholfen. Nicht mal euch selbst.

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